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Alt 02.07.2022, 16:23
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Gracefan Gracefan ist offline
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Nach sehr sehr langer Zeit – vielleicht erinnert sich das eine oder andere Urgestein noch an mich! – melde ich mich wieder zurück, um meine Eindrücke vom Film mit euch zu teilen. Ich habe so viele Gedanken nach dieser Seherfahrung, und wo könnte ich sie besser ausdrücken als hier unter Gleichgesinnten?

Ich bin sehr hin und hergerissen: Der Film hat mich an einigen Stellen begeistert und überwältigt, und an anderen frustriert und ratlos zurückgelassen.

Ich finde, eine große Qualität des Films (und deswegen würde ich ihn trotz aller Schwächen weiter empfehlen) ist, dass er wirklich mitreißend transportiert, wie neu und aufregend der junge Elvis war, was er für einen Unterschied gemacht hat. Da ist so viel Energie und Spannung auf der Leinwand, so viel Gefahr und Sex, wenn sich Austin Butler lasziv im pinken Anzug bewegt und die Kamera in seinem Schritt verweilt. Wenn Elvis nach diesem Film von einem jungen Publikum als dynamischer, revolutionärer Künstler verstanden wird – was ja nicht unbedingt die Wahrnehmung der letzten Zeit war –, dann hat der Film etwas ganz Großartiges erreicht und darüber freue ich mich als Fan sehr. Dass mit Butler jemand besetzt wurde, der in Sachen Charisma und Sex-Appeal seinem Vorbild wirklich nahekommt, ist die weitere große Stärke des Films. Ich freue mich über jeden (jungen) Menschen, der nach diesem Film von Elvis fasziniert ist und tiefer ins Werk einsteigen will, und ich glaube, da wird es einige geben. In dieser Hinsicht: Hut ab!

So gelungen ich die musikalischen Sequenzen finde – und auch die späteren sind alle sehr gut in meinen Augen –, so enttäuschend finde ich die meisten Szenen, in denen nicht gesungen, sondern gesprochen wird. Warum der Film aus der Perspektive des Colonel erzählt wird, ist mir ein völliges Rätsel. Diese Rahmenhandlung sorgt nur für Distanz und reißt einen aus Elvis' Leben heraus. Zumal der Konflikt der beiden der immergleiche ist: Der zwielichtige, kontrollierende Colonel, und der arme, naive Elvis, der eigentlich ganz anderes will. Unabhängig davon, wie nah an tatsächlichen Begebenheiten das ist: Mir ging es beim fünften Mal nur noch auf die Nerven. (Auch Tom Hanks hat mir in der Rolle nicht sonderlich gefallen.) Ähnlich die Eltern oder Priscilla, was einige von euch ja schon angemerkt haben: Holzschnittartige, flache Figuren, die für konstruierte Konflikte sorgen, und keine Tiefe haben.

Dass der Film Elvis' gesamtes Leben erzählt, halte ich auch für eine schlechte Entscheidung. Er prescht durch die Jahre und selbst riesige Zäsuren wie Gladys' Tod passieren dann schnell auf dem Weg. Vielleicht hätte man besser nur bis 1958 erzählt, und Elvis' frühe Jahre gezeigt, dafür aber ausführlicher, und auch der Beziehung zu seiner Mutter mehr Raum gegeben? Mir hat die zweite Hälfte jedenfalls deutlich weniger gefallen. Der Niedergang, die sich zuspitzenden Konflikte mit Priscilla und dem Colonel fand ich wenig überzeugend oder interessant.

Faktentreue ist mir bei einem Spielfilm nicht so wichtig. "Elvis" hat nicht den Anspruch, die historische Wahrheit abzubilden, eher die "gefühlte" Wahrheit, und das macht er, was die Musik und die Energie des jungen Elvis angeht, wie gesagt sehr gut. Dass der Film sich aber so viel Mühe gibt, Elvis als verhinderten Bürgerrechtler darzustellen, ist mir in der Hinsicht (neben den Dingen, die ihr genannt habt) noch besonders aufgefallen. Ist wohl ein Zugeständnis an den heutigen Zeitgeist, wo man von seinen Stars erwartet, sich auch politisch zu positionieren und zumindest Lippenbekenntnisse abzugeben. Dass Elvis aber spiritueller Teil der Civil-Rights-Bewegung war, ist mir neu. Naja, ein kompliziertes Thema.

Insgesamt für mich also sehr gemischte Gefühle, aber unterm Strich überwiegen die Stärken.
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