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Alt 23.11.2013, 09:44
Winston
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Beitrag Sams verlorener »Crooner«

»Ich höre lieber andere Sänger Balladen singen. Ich kann nicht wie Pat Boone singen. «
[Elvis, März 1956]

Über die geniale Zusammenarbeit von Elvis und seinem Produzenten Sam Phillips habe ich die letzte Zeit beim Lauschen der fantastischen Box A Boy From Tupelo erneut nachgedacht. Ich werfe dem guten Sam immer noch eine für mich bittere Entscheidung vor.

Elvis kam voller Eifer ins Studio und hatte seine derzeitigen Favoriten von den Ink Spots, Dean Martin und anderen im Gepäck. Aber Elvis musste schnell erkennen, das Sam andere Vorstellungen hatte als er selbst. Sam wollte was Neues und keinen weiteren »Crooner«. Ich halte dies für einen Fehler. Elvis wollte niemals »König des Rock’n‘Roll« sein. Sein Wunsch lag im Singen von Balladen, die er Sam dann auch voller Eifer präsentierte. Das war aber nicht in Sams Sinn und er konnte es nach eigener Aussage nicht über das Herz bringen, Elvis von dieser »Zeitverschwendung« im Studio abzuhalten. So schaltete er immerhin einige Male die Bandmaschine an. Der Geschäftssinn übernahm das Ruder und Elvis nahm etwas »Neues« auf, für das der Zuhörer und Käufer zahlen würde. Das bringt Elvis und Sam Geld!

Kein Zweifel, diese neue Musik brachte Elvis in die Charts. Allerdings denke ich immer an die vielen frühen Interviews. Er bezeichnet I Was The One und Don’t als seine eigenen Favoriten. Er erklärt sogar, dass er Rock’n’Roll solange singen wird, wie das Publikum seine Platten kauft. Kleine Stiche bekomme ich dann in mein Herz, wenn ich höre, wie er Dean Martin oder Mario Lanza überschwänglich lobt. Sie waren für ihn einfach großartig. Das klingt in meinen Ohren nicht nach einem überzeugten Rock-Musiker, sondern nach jemanden der weiß, dass er etwas besser kann und damit Geld zu verdienen ist. Warum die Zeit des Rock’n’Roll nicht nutzen und sich und seiner Familie die lange gehegten Wünsche erfüllen.

1972 erzählt Elvis den Reportern vor seinem grandiosen Auftritt im Madison Square Garden, dass It’s Now Or Never sein eigener Favorit ist. In späteren Jahren sind großangelegte Balladen wie Hurt oder Unchained Melody die Songs, die er liebt. Elvis hatte das große Talent die Cover-Versionen anderer Künstler wie seine eigenen Lieder klingen zu lassen. Mit wenigen Ausnahmen versuchte er sich nie an den Liedern von Frank Sinatra oder Dean Martin. Zu groß war sein Respekt und zu klein das Selbstvertrauen als Balladen-Sänger und die Einschätzung seiner eigenen Stimme.

Ich kann nicht beurteilen, wie tief der Stachel gesessen hat, den Sam verursacht hat, als keine seiner Balladen als gut genug zur Veröffentlichung angesehen wurde. Nicht einmal das wunderbare Blue Moon schaffte es auf eine B-Seite bei SUN-Records. Geschweige den das ebenso schöne Tomorrow Night. Aber eines weiß ich. Es gibt so viele private Aufnahmen, die bei Elvis zuhause entstanden und wir hören durchweg Balladen und Gospels. Das ist die Musik, die er sang, wenn er für sich war und die Musik, die er mochte. Hier sind einige meiner Lieblings-Balladen:

Blue Moon – Ich sehe immer einen unendliche Highway vor mir, wenn ich dieses geisterhaft anmutende, wunderschöne Frühwerk höre. Die tiefe Suche nach erlösender Liebe.

I Need Somebody To Lean On – Eine beim ersten Hören ungewöhnliche aber dann fantastische Ballade mit einer zärtlichen Mitternachtsmelodie. Eine Arbeit voller Genialität und vollkommen unterschätzt.

I’ll Hold You In My Heart –Elvis kann dieses Meisterstück einfach nicht beenden. Man sinkt immer tiefer in seinen heiseren Vortrag. Er verliert sich total in seinem Misstrauen, ob seine Geliebte wirklich auf ihn wartet. Das Stück ist einfach fantastisch!

The Wonder Of You – Schon 1967 wollte Elvis den Hit für Ray Peterson aufnehmen. Leider wurde dieser Plan fallengelassen. Aber er präsentierte dieses wunderschöne Stück voller Überzeugung und Selbstvertrauen live in Las Vegas drei Jahre später. Spätestens beim Solo von James Burton laufen die Schauer über meinen Rücken. Wundervoll!

Where Did They Go Lord – Elvis verausgabt sich vollkommen bei dieser saustarken Ballade von Dallas Frazier. Ich kann die Passage, dass er nicht verbittert ist, sondern ein leeres Herz hat, immer und immer wieder hören.

There’s A Honky Tonk Angel – Dies ist ein so großartige und gelungener Cover-Song von dem Hit von Conway Twitty, dass einem Tränen kommen. Vielleicht hat er dieses Lied nur aufgenommen, weil sein Vater ihm davon erzählt hat. Köstlich sein Kommentar vor einem Versuch: »Ich werde noch verrückt…«! Genau das passiert und es hört sich wunderbar an.